Nachruf auf Andrzej Korczak-Branecki

von Joanna de Vincenz, Fotos von Maciej Rusinek

In Warschau starb am 5. Februar 2020 im Alter von 90 Jahren Andrzej Korczak-Branecki – einer der letzten Überlebenden des KZ-Außenlagers Katzbach in den Adlerwerken in Frankfurt am Main.

Viele Male war er als ehemaliger Verfolgter des NS-Regimes in Deutschland zu
Besuch – in München, Köln, Mannheim und immer wieder in Frankfurt am Main. Den wiederholten Weg nach Frankfurt ebneten für Andrzej Korczak-Branecki und für ein Dutzend weiterer ehemaliger Lagerkameraden die Historiker Ernst Kaiser und Michael Knorn. Ende der 1980-er Jahre führten sie mit der Schuljugend  ein Projekt über die Geschichte der Adlerwerke in Frankfurt während des Zweiten Weltkriegs durch.

In den Adlerwerken existierten im Krieg zwei Arbeitslager: eines mit Unterbringung in den Baracken in Griesheim und ab August 1944 bis Ende März 1945 ein KZ-Außenlager unter dem Decknamen „Katzbach“, beaufsichtigt von der SS.

Die Arbeitskräfte für die Adlerwerke wurden ab Herbst 1944 aus den KZs Buchenwald, Dachau und Ausschwitz geholt. Die Vernichtung durch Arbeit war im KZ Katzbach vorprogrammiert, wie es Kaiser und Knorn in ihrem seit Anfang 1990er Jahre mehrfach aufgelegten Buch „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten“ (Campus Verlag) nachwiesen.

Das Fabrikgebäude im Gallus wurde gegen Kriegsende durch Bombenangriffe zunehmend zerstört. Die KZ-Gefangenen, 1.000 Männer in leichter Sträflingskleidung, schliefen im obersten Stockwerk des Gebäudes auf provisorischen Brettern. Es mangelte an Waschmöglichkeiten, und die Essrationen waren knapper als in den KZ-Stammlagern.

Die schwerste Sklavenarbeit, Krankheiten und der Sadismus der Aufseher verursachten den Tod. Nur ca. 100 Männer von 1.600, die durch das KZ Katzbach durchgeschleust wurden, erlebten das Kriegsende. „Frankfurt war der schlimmste Ort, an dem ich in meinem ganzen Leben gewesen war“, erinnerte sich Korczak-Branecki noch Jahrzehnte später.

Im KZ Katzbach wurden zahlreiche Polen aus dem Warschauer Aufstand, der im August und September 1944 stattgefunden hatte, gefangen gehalten. Vereinzelt waren auch  Menschen anderer Nationalitäten anzutreffen, wie Korczak-Branecki stets betonte: Ukrainer, Russen, Juden, Deutsche, Franzosen, Roma. Sie kamen über das KZ Ausschwitz, als man im Winter 1944/1945 nach massenhaften Todesfällen den Häftlingsstand im KZ Katzbach erneut auf 1.000  Personen erhöhte.      

Andrzej Korczak-Branecki gehörte mit seinen 14 Jahren zu den jüngsten Gefangenen in den Adlerwerken. Auch er wurde während des Warschauer Aufstands inhaftiert, nach über einem Monat des Kampfes im Stadtteil „Powisle“. Ab nun wurde er als „polnischer Bandit“ misshandelt.

Im KZ Dachau wurde Korczak-Branecki für das KZ-Außenlager Mannheim-Sandhofen selektiert. In der Weihnachtszeit 1945 erfolgte sein Transport ins KZ Buchenwald, im Januar 1945 gelangte er in die Adlerwerke in Frankfurt. Frappierend genau erinnerte Andrzej Korczak-Branecki an die kleinsten Details aus der KZ-Gefangenschaft sowie der Zeit des Aufstands.

Als Kind wurde er drei Jahre lang darin geschult, detaillierte Informationen für die Heimatarmee (AK), die im Untergrund im okkupierten Polen kämpfte, zu sammeln. Mit 11 Jahren trat Branecki in die Grauen Reihen ein, eine polnische Pfadfinder-Organisation im Untergrund. Er war bereits Halbweise. Die Familie erlebte 1939 einen rapiden Abstieg. Sein Vater, ein polnischer Regierungsbeamter und später leitender Büroangestellter, kam kurz vor dem Kriegsausbruch ums Leben. Die Familienwohnung wurde im September 1939 ausgebombt.

Alle vier Geschwister beteiligten sich im okkupierten Warschau am Widerstand gegen die Deutschen. Andrzej Korczak-Branecki trug die Untergrundzeitung aus und transportierte Waffen durch die Straßen Warschaus im Kartoffelsack. Noch riskanteren Aufgaben war er zugeneigt. So legte er ein Mal an der Stelle, wo kurz davor in Warschau Menschen öffentlich exekutiert worden waren, eine weiß-rote Schleife nieder, als Symbol des Kampfgeistes des polnischen Untergrunds. Als er flüchtete, hörte er hinter seinem Rücken die Schüsse der Wachposten.

Die Grauen Reihen prägten Andrzej Korczak-Braneckis Leben. Neben dem Kampfgeist wurden den Jugendlichen starke Ethik-Grundsätze eingeimpft. Vorurteilsfrei begegnete Andrzej Branecki anderen Menschen. Und er schätzte nach Jahren, sowohl im Bericht für das Museum des Warschauer Aufstands als auch in den Zeitzeugengesprächen in Deutschland, jede auch noch so kleine menschliche Geste während seiner KZ-Gefangenschaft. So erinnerte er an seinen Meister in den Adlerwerken, der ihm, der damals so ausgehungert war, manchmal heimlich ein Pausenbrot zusteckte.

Am Kriegsende, nach zwei Todesmärschen, wog Andrzej Korczak-Branecki  28 Kilo und war an Typhus erkrankt. Sobald er von den Amerikanern aufgepäppelt worden war, kehrte er nach Warschau zurück. Auf dem Abendgymnasium bestand er das Abitur und fand eine interessante Anstellung in der  polnischen Akademie der Wissenschaften, wo über die Elektrizität geforscht wurde. Das erträumte Studium an der Technischen Universität in Warschau durfte er trotz bestandener Eingangsprüfung nicht aufnehmen. Im stalinistischen Polen wurden an den  Universitäten die Arbeiterkinder bevorzugt, und Andrzej Branecki füllte den Aufnahmebogen wahrheitsgetreu aus. Die adelige Herkunft der Familie verschwieg er, aber den „Intelligencja“-Status seines polyglotten und staatsmännischen Vaters wollte er nicht verheimlichen.

Die Geschichte war Andrzej Braneckis Hobby. Der Bücherschrank in seiner  Wohnung im Stadtteil Bielany in Warschau war prall mit Werken über das 20. Jahrhundert gefüllt. Die Welt um Andrzej Branecki war stabil und geordnet, er hat drei Kinder, Enkel und Urenkel. Seinen Lebensabend prägte sein Engagement für die deutsch-polnische Versöhnung.

Viele Freunde hatte Andrzej Korczak-Branecki in Deutschland. Er war ein Mann der leisen, bescheidenen Töne. Je leiser und persönlicher er als Zeitzeuge sprach, desto aufmerksamer wurde seinen Worten gelauscht. Mit Dankbarkeit beobachtete er den Einsatz der Frankfurter in den 1990er Jahren für die symbolische Entschädigung der Zwangsarbeit in der NS-Zeit sowie die Neugestaltung des Sammelgrabs auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, wo 518 Kameraden aus dem KZ Katzbach ruhen. 

Eine besondere Beziehung verband Andrzej Korczak-Branecki mit Zeichen der Hoffnung e. V. – einer Organisation der evangelischen Kirche, die den polnischen Überlebenden der KZ-Lager u. a. kurze Kuraufenthalte in Polen und Deutschland ermöglicht und sie zu Gesprächen in den Schulen begleitet. Auch mit dem Maximilian Kolbe Werk war er in Deutschland als Zeitzeuge zu Begegnungen unterwegs. In den letzten Jahren unterstützte Andrzej Korczak-Branecki in Frankfurt den Förderverein zur Errichtung der Gedenk- und Bildungsstätte über das KZ Katzbach und die Zwangsarbeit in Hessen. Einige Video- und Tonaufnahmen mit seinen Erinnerungen hat man dort  für die Zukunft gesichert. Das sind einprägsame Lektionen über die Menschenwürde, die der bescheidene ehemalige KZ-Katzbach-Gefangene Andrzej Korczak-Branecki mit leisen Tönen sehr überzeugend während seiner Freundschaftsbesuche vermittelte.